Wenn ich zur Mittagszeit zufällig in der Nähe des Ludwigkirchplatzes bin, gehe ich zum Koreaner etwas essen. Das Essen dort ist nicht besonders gut. Ich kenne asiatische Imbissrestaurants, in denen das Essen sehr viel besser schmeckt. Es ist auch nicht gemütlich. Man sitzt an niedrigen Tischen, auf kleinen, wackeligen Stühlen, als wäre man in einer Grundschule, die bald geschlossen wird. Im Winter ist der Raum schlecht geheizt und der Wind kriecht durch die Ritzen zwischen den großen Glastüren, die im Sommer zur Straße hin offen stehen. Direkt hinter dem Tresen befindet sich die offene Küche, wo zwei Köche mit steinernen Gesichtern routiniert ihre Wok-Pfannen über den Gasflammen schwenken. Aus riesigen Töpfen ragen Hühnerbeine.
Ein Grund, warum ich dennoch gerne diesen Koreaner aufsuche, ist die Frau, die die Bestellungen entgegennimmt. Ich schätze sie auf fünfzig Jahre. Sie ist klein wie alle Asiatinnen, und sieht so freundlich aus wie ein Pfirsich im Spätsommer. Immer wenn ich sie sehe, glaube ich an das Glück des Älterwerdens. Ich bestelle bei ihr Eierreis mit Huhn und Gemüse, dazu einen Jasmintee. Wenn die Sonne scheint geht sie leichtfüßig durch den Raum, um die Glastüren zu öffnen und mehr Licht herein zu lassen. Mit jedem ihrer Schritte verwandelt sie den zugigen Kantinenraum etwas mehr in ein blumengeschmücktes Wohnzimmer. Obwohl es sich um ein Selbstbedienungsrestaurant handelt, bringt sie mir das Essen immer persönlich an den Tisch. Nur ein Mal wechselten wir ein paar Worte miteinander. Sie erzählte vom milden Klima in ihrem Heimatland, und wie sehr sie die klare Luft aus den koreanischen Bergen vermisst.
Der andere Grund, warum ich gern zum Koreaner gehe, obwohl das Essen nur mittelmäßig schmeckt, sind die Holzstäbchen. Wenn ich nicht von Zeit zu Zeit mit Holzstäbchen esse, fehlt mir etwas. Ich bekomme richtige Entzugserscheinungen. Es verschafft mir eine tiefe Befriedigung, mit Holzstäbchen zu essen. Ich glaube, ich kann das nicht erklären. Ich mag es einfach, mit Holzstäbchen einen ganzen Teller leer zu essen. Vielleicht, weil ich es als Kind unvorstellbar fand, dass die Chinesen mit Stäbchen Reis essen können.
Manchmal, wenn ich beim Koreaner sitze und mit Holzstäbchen esse, fällt mir eine Begebenheit aus der Zeit ein, als ich die Technik, mit Stäbchen zu essen, noch nicht beherrschte.
Eine Freundin hatte mich zu Sylvester in das süddeutsche Städtchen eingeladen, in dem sie groß geworden war. Beatrice und ich hatten uns in der Mittagspause eines Fortbildungsseminars beim Kaffeetrinken kennen gelernt. Mir gefielen ihre hellen Augen und die dunkle, wild gelockte Löwenmähne, die gar nicht zueinander passten. Am Abend gingen wir essen, tranken zwei Flaschen spanischen Rotwein und redeten bis weit nach Mitternacht über Filme, Romane und andere Träume, die mit dem Leben nicht viel zu tun haben. Von Anfang an herrschte die unausgesprochene Vereinbarung zwischen uns, nichts aus unseren Leben zu erzählen, nichts vom Alltag, nicht von unserer Herkunft, nichts von anderen Männern und Frauen. Eine Vereinbarung, an die wir uns auch bei späteren Treffen hielten. Wir schlenderten durch die Straßen und Kaufhäuser, versanken in Kinosesseln und lasen uns bei Kerzenlicht die Lieblingsstellen aus unseren Lieblingsbüchern vor. Wir bekochten uns gegenseitig. Ab und zu rauchten wir etwas Gras und hörten alte Platten von Roxy Music und T. Rex. Dann schliefen wir miteinander, aber das gehörte nicht zu den Höhepunkten unserer Beziehung. Da wir in weit auseinander liegenden Städten wohnten, sahen wir uns nur wenige Male im Jahr.
Ich wusste nicht genau, was ich von Beatrice wollte und hatte keine Ahnung, was sie von mir. Aber immer, wenn wir im Abstand von mehreren Wochen miteinander telefonierten, freute ich mich, ihre Stimme zu hören. Ich deutete ihre Einladung, den Jahreswechsel mit ihr und einigen Jugendfreunden in ihrem Heimatstädtchen zu verbringen, als möglichen Beginn einer neuen Epoche. Ich fuhr mit der Hoffnung dorthin, ich würde mehr über sie und mehr über meine Gefühle für sie erfahren.
Am Mittag des 31. Dezembers gingen wir in ein chinesisches Restaurant zum essen. Wir waren zu fünft. Außer uns beiden waren noch ein Liebespärchen dabei, das sehr mit sich beschäftigt war, und ein Freund aus Jugendtagen. Dieser Freund wirkte auf den ersten Blick etwas unscheinbar, er trug eine altmodische Brille und ein farbloses Sweat-Shirt, aber es stellte sich schnell heraus, dass er eine Menge lustige Geschichten zu erzählen hatte. Jede, auch die banalste Begebenheit aus seiner Arbeitswelt, klang aus seinem Mund wie ein Abenteuer. Er war nicht der Typ, dem unentwegt haarsträubende Dinge zustießen oder der ständig Opfer einer Verschwörung wurde und daraus seine Geschichten gewann. Er war einfach ein guter Erzähler mit einem Blick für wesentliche und oft kuriose Details. Er arbeitete für ein Münchner Softwareunternehmen und programmierte dort Strichcode-Leser für die deutsche Post. Ich wollte ihn gern öde finden, aber es gelang mir nicht.
Nachdem wir alle unsere Essensbestellung aufgegeben hatten, bat dieser scheinbar unscheinbare Freund den Kellner darum, ihm Stäbchen statt einer Gabel zu bringen. Daraufhin fragte der Keller, wer von uns noch mit Stäbchen essen will. Alle wollten, außer mir. Ich hatte noch nie mit Stäbchen gegessen. Ich hatte noch nicht einmal daran gedacht. Ich erinnerte mich auch nicht, dass Beatrice jemals mit Stäbchen gegessen hatte, wenn wir bei einem Asiaten zusammen essen waren. Während wir auf das Essen warteten, tauschten die anderen Erinnerungen aus ihrer Jugend aus, und ich fühlte mich wie falsch besetzt. Beatrice saß mir gegenüber, ihre hellen Augen leuchteten, und ab und zu blinzelte sie zu mir herüber. Die Erzählungen kreisten hauptsächlich um einen legendären Kellerdiscoclub, in dem der unscheinbare Freund wilde, verrückte Tanzorgien organisiert hatte.
„Wisst ihr der Abend, als alle Kerle vom Service Röcke trugen und nichts darunter?“
„Und Beatrice unter wirklichen jeden Rock gucken musste, nachdem sie drei Glas von Georgs Spezial Tequila getrunken hatte!“
Alle lachten und Beatrice’ Augen strahlten noch ein bisschen heller. So ging es immer weiter und im Stillen betete ich dafür, dass der unscheinbare Freund, der meist das Wort führte, bald wieder aus meinem Leben verschwand.
Dann brachte der Kellner das Essen. Er zauberte vier Teller auf den Tisch, wovon jeder einzelne wie eine freundliche Landschaft aussah. Anmutige Reiskegel lagerten darauf, daneben feine Häufchen aus frischem Gemüse und Sprossen, begleitet von lecker gebratenem Hühnchenfleisch und feinem Fisch. Der fünfte Teller sah gar nicht gut aus. Blasse Teilchen schwammen in einer gelben Sauce. Der fünfte Teller wurde vor mir abgestellt. Selbst, wenn ich mit Stäbchen hätte essen können, war dieses Gericht bestenfalls mit einer Gabel zu bewältigen. Aus irgendeinem Grund saßen alle andächtig da und schauten auf die dampfenden Gerichte. Der unscheinbare Freund blickte zu mir herüber, senkte dann die Augen auf meinen Teller und schüttelte den Kopf.
„Was ist das denn?“ fragte er mich. Ich hörte kein Mitleid in seiner Frage mitschwingen.
„Hühnchen süß-sauer“, sagte ich, so leise, dass es kaum zu hören war.
„Oh“, sagte er freundlich, „ich glaube, das würde ich nicht runterbringen“, und er lächelte dabei Beatrice an, die neben ihm saß. Es war das Zeichen, mit dem Essen zu beginnen. Fröhlich klapperten die anderen mit ihren Stäbchen, während ich still meinen Brei mit der Gabel in mich hinein schaufelte. Am liebsten hätte ich mein Essen zurück gehen lassen, und ein anderes Gericht bestellt, eines, das frisch und leicht aussah. Aber dazu fehlte mir der Mut.
Am späten Nachmittag des 31. Dezember schliefen wir miteinander. Die Mitteilung von Beatrice, dass der unscheinbare Freund die Sylvesternacht auf einer anderen Party verbringen würde, hatte meine Laune etwas gehoben und ich öffnete eine Flasche Champagner, die ich als Geschenk mitgebracht hatte. Ich vergrub mein Gesicht ein letztes Mal in Beatrice vollem Haar. Als wir uns danach ausruhten und später für den Abend ankleideten, begriff ich, dass wir uns nie etwas zu sagen hatten. Nicht einmal mehr ein Film oder ein Buch inspirierte uns zu einem letzten Gespräch.
Die Sylvesterfeier verbrachte ich in einem trüben Nebel aus stampfender Musik, ungewohnten Drogen und Einsamkeit. Beatrice, die sonst gern etwas verträumt auf einem gemütlichen Sessel saß, tanzte die ganze Nacht.
Ich brauchte einen ganzen Tag, um mich von dieser Nacht zu erholen. Als ich am zweiten Januar endlich ausgeschlafen und frisch geduscht war, verließ ich bereits am frühen Vormittag die Gastgeberwohnung, obwohl mein Zug erst am Nachmittag fuhr. Beatrice war irgendwann verschwunden und ich hatte mir keine Mühe gemacht, sie zu suchen. Ich schlenderte durch das Städtchen auf der Suche nach Zerstreuung und etwas, das mich mit diesem Jahresbeginn versöhnen könnte. Eine kleine Fußgängerzone mit ein paar Geschäften, ein altes Stadttor und ein geschlossenes Heimatmuseum, mehr gab es nicht zu entdecken. Aber die Sonne schien und obwohl es tiefster Winter war, fand ich eine geöffnete Eisdiele, in der ich mir ein Waffeleis mit Straciatella holte.
Schließlich entdeckte ich in einer Seitengasse einen Buchladen. Mit dem Eis in der Hand studierte ich ausführlich die Schaufensterauslage. Nicht, wie sonst in Provinz-Buchläden üblich, waren dort Krimis, Reiseführer und Kochbücher dekoriert, sondern Romane von Kafka, Thomas Mann und Truman Capote. Daneben standen aktuelle Bücher von Rainald Goetz und Christa Wolf. Noch erstaunlicher fand ich das zweite Schaufenster, in dem sich politische Biographien und philosophische Werke befanden.
Nachdem ich mein Eis aufgegessen hatte, betrat ich den Laden, und wurde nicht enttäuscht. Drei gut gelaunte Buchhändler hielten sich darin auf, und scherzten miteinander, während sie sich Bücher zuwarfen, die sie ein- oder umsortierten. Ich fühlte mich wie der Wanderer, der nach einer langen Reise durch die Wüste endlich in der Oase eintrifft. Ich begann in den Regalen zu stöbern und freute mich über das gut sortierte Angebot. Nach und nach verzogen sich die trüben Sylvesterschwaden aus meinem Kopf. Über die Belletristik wanderte ich zur Psychologie und setzte mich schließlich am philosophischen Regal fest. Ich war dankbar dafür, dass die ganze weite Welt der Philosophie in ein einziges Regal passte, und ich freute mich außerdem, dass der Begriff der Philosophie weit gefasst war. Ich entdeckte ein Buch mit dem Titel „Männerfantasien“ und nahm es langsam in die Hand. Ich wusste nicht, was mich darin erwartete, ich hatte wirklich keine Ahnung. Vielleicht, so hoffte ich, würde es mich auf eine Fährte führen, was diese Affäre (so nannte ich es nun für mich) mit Beatrice zu bedeuten hatte. Ich schlug eine Seite auf und stieß auf ein Bild. Ich sah ein Skelett, das auf einem rauchenden Flugzeug sitzt und mit der rechten Knochenhand zum Wurf mit einer Kanonenkugel ausholt. Ich las die Texte unter dem Bild und blätterte weiter durch das Buch, fand andere comichafte Bilder, und Fotos von Soldaten, Plakate aus der NS-Zeit, auf einem stand in riesigen Buchstaben „Die Heimat ist in Gefahr“. Es dauerte einige Minuten, bis ich merkte, dass ich zu schwitzen anfing. Ich streifte meine Winterjacke ab, ohne meine Augen vom Buch zu lassen und las die Beschreibungen von starren, gepanzerten und gefühlsarmen männlichen Körpern, die wie Maschinen in die Schlachten des Zweiten Weltkriegs eingezogen waren; mit der tiefen Sehnsucht ausgestattet, im Kampf endlich ihre Panzerketten zu sprengen, um sich in siegreicher Ganzheit wie neugeboren zu spüren. Ich saß atemlos und blätterte in dem Buch, und verstand nicht alles, was ich las und sah, und verstand auch nicht, warum ich so schwitzte, aber plötzlich sah ich meinen Großvater auf dem unergründlichen Schlachtfeld von Stalingrad herumirren. Zwischen zerstörten Stellungen, inmitten eines ohrenbetäubenden Lärms, stolperte er von Leiche zu Leiche, und rüttelte an den leblosen Körpern seiner Kameraden. Es war offensichtlich, dass er etwas suchte, aber ich konnte in meinem Tagtraum nicht erkennen, was es war. Ich wusste so gut wie nichts über ihn. Ich wusste nur, dass er kurz vor dem Jahreswechsel 1942/43 mit einem der letzten Lufttransporte von seinem Weihnachtsheimaturlaub in den Kessel von Stalingrad zurückkehrte, um dort zu sterben.
Ich erinnerte mich an den Besuch bei meiner Großmutter, einige Wochen zuvor. Wir sahen abends im Fernsehen einen Dokumentarfilm über den Russlandfeldzug an. Am nächsten Morgen erzählte meine Großmutter beim Frühstück, dass sie keine Minute schlafen konnte, wegen der Erinnerungen, die die Fernsehbilder in ihr wach gerufen hatten. Sie sah müde aus und ich konnte im Morgenlicht jede ihrer Falten genau erkennen. Ihr Atem ging schwerer als sonst, als sie anfing zu sprechen. „Es ist so, als wäre es gestern gewesen. Kein Feldbrief traf mehr ein. Er war einfach verschwunden. Erst Monate später erfuhr ich von einem seiner Kameraden, dass er zuletzt in einer Stellung gesehen worden war, wo kurz darauf eine Granate einschlug. Seine Leiche wurde nie gefunden.“
Ich nickte mit dem Kopf und sagte nichts. Ich wusste, dass sie nie mehr in ihrem Leben einen anderen Mann hatte. Wir saßen beide schweigend am Frühstückstisch und ich spürte, wie die Vergangenheit langsam in mich hinein tropfte.
Daran denke ich manchmal, während ich mit meinen Stäbchen den Teller bis auf das letzte Reiskorn leer picke. Ich versuche mich zu erinnern, warum ich das Buch nicht gekauft habe. Ich glaube, es war mir zu teuer, aber ich weiß es nicht mehr. Beatrice lud mich ein halbes Jahr später zu ihrer Hochzeitsfeier mit dem unscheinbaren Freund ein, aber ich fuhr nicht hin.
Ich stelle mir vor, wie mein Großvater mich jetzt sieht, wie ich hier sitze und mein Essen beende, und wie er sich freut, dass er mich gefunden hat und ich stelle mir vor, dass er stolz darauf ist, dass sein Enkelsohn mit Stäbchen essen kann. Es erleichtert ihn, stelle ich mir vor. Dann bringe ich das Geschirr zum dafür vorgesehenen Platz neben dem Tresen, und suche noch einmal die Augen der koreanischen Frau, um mit ihr einen Abschiedsaugenblick zu tauschen. Selbst im größten Trubel schenkt sie mir ein feines Lächeln, wenn ich gehe, und ich glaube, sie ahnt gar nicht, wie viel mir dieses Lächeln bedeutet.
© Stefan Strehler, 2008, „Warum ich beim Koreaner manchmal an die schlaflosen Nächte meiner Großmutter denke”
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