Der Typ, der in der Rödernallee zwischen den Linden am Straßenrand steht und lässig die Hand hebt, sieht schon von weitem nach Kurzstrecke aus. Dunkle Lederhose, verwaschenes Karo-Hemd, ein wuschelig nach hinten gebundener Zopf, Bauarbeiterweste und ohne Gepäck. Er könnte ein Gerüstarbeiter oder Zimmermann sein, der es eilig hat, zu einer Baustelle in einem anderen Stadtteil zu kommen, aber irgendwie sieht er nicht nach ferner Baustelle, sondern nach Kurzstrecke aus. Als die Kurzstrecke als Sondertarif eingeführt wurde – noch zu D-Mark-Zeiten – lautete ein Werbeslogan des Taxiverbandes, den man sich als Aufkleber anbringen konnte: „Für fünf Mark bringen wir Sie um die Ecke“. Das war ein erstaunlich cooler Spruch für ein konservatives Gewerbe. Aus fünf Mark sind mittlerweile drei Euro geworden. Dafür kann man genau zwei Kilometer weit fahren. Unter den Fahrgästen gibt es Spezialisten, die auf den Gullydeckel genau wissen, wie weit sie mit den drei Euro kommen. Exakt nach zwei Kilometern rufen sie „Stopp“, bevor das Taxameter auf Normaltarif umspringt. Ich weiß von vielen Kollegen, dass sie bei dem Typ am Straßenrand – mit einem Gesicht, das noch zerknautschter aussieht als seine Kleidung und, wie ich jetzt entdecke, mit einer brennenden Zigarette in der Hand – niemals anhalten würden. Die fahren auf der linken Spur an ihm vorbei und tun so, als hätten sie ihn nicht gesehen. Das ist natürlich Unsinn, als Taxifahrer registrierst du jedes halbwegs lebendige Wesen, das sich am rechten Straßenrand aufhält. Aber diese Kollegen haben sich ausgerechnet, dass sie bei fünf Kurzstrecken am Tag fünfzehn Euro weniger in der Kasse haben, als wenn sie die Fahrgäste zum Normaltarif befördern.
Ich behandle den Kurzstrecken-Tarif wie eine Einstiegsdroge und halte bei jedem an, sofern er sich ohne Hilfe auf den Beinen halten kann. Wer ein paar Mal für drei Euro gefahren ist, der will irgendwann mehr von diesem Zustand genießen: Gedankenlos durch die Straßen gleiten, vielleicht bei leicht geöffnetem Fenster und perlender Musik, in einem Mercedes-Benz, den man nicht alle Tage fährt …
Ich setze den Blinker und bremse langsam ab, um den hinter mir fahrenden Autos eine Chance zu geben, rechtzeitig auf die linke Spur zu wechseln. Genau vor dem Typ kommt mein Wagen zum Stillstand. Er öffnet die hintere Tür, lässt sich in den Sitz fallen und quetscht leise ein einzelnes Wort hervor: „Rauchen?“
Als ich nicke, schlägt er die Tür zu und grummelt hinterher: „Kurzstrecke, Paracelsusbad.“
Ich nicke noch einmal und fahre wieder an. Bis zum Paracelsusbad sind es vielleicht anderthalb Kilometer. Allerdings befindet sich eine Baustelle mit Fahrbahnverengung auf dem Weg. Der Typ kurbelt das Fenster herunter, zieht tief von seiner Zigarette und schnippt Asche nach draußen. Im Radio läuft ein Popsong aus den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts: „Maybe, there’s a time we’ll call our own. Livin‘ free in harmony and majesty.”
Ohne in den Rückspiegel zu schauen, kann ich spüren, dass sich mein Fahrgast bei dem Song windet und drehe deshalb etwas leiser.
Es ist eine umstrittene Frage, wer im Taxi die Musik bestimmt: Der Fahrer oder der Fahrgast? Die Faustregel ist: Je länger die Strecke ist, die der Fahrgast zurücklegt, umso mehr Ansprüche darf er stellen. Ein Kurzstreckenfahrgast ist beinah rechtlos. Er kann nicht erwarten, dass ich wegen ihm, in den höchstens fünf Minuten, die er in meinem Wagen verbringt, die Musik wechsle. Das wäre vermessen. Er ist ein von mir geduldeter Gast, den ich für ein Quasi-Trinkgeld bis zur nächsten Ecke mitnehme, wo ich sowieso hin will.
„Kannste das Gesäusel mal abstelln!“, höre ich ihn von hinten in meine Gedanken platzen, jetzt mit erstaunlich kräftiger Stimme. Überhaupt ist er ein kräftiger Typ. Es war auch keine Frage, sondern eine Aufforderung.
„Ist nicht dein Geschmack?“, frage ich. Ich hänge nicht an dem Song, auch nicht an dem Radiosender.
„Pffh!“ Er stößt Luft aus. „Friede, Freude, Eierkuchen, was für ein Schwachsinn.“
„Wieso, ist doch gut, dass es Menschen gibt, die ab und zu ein Lied über Frieden und Freiheit singen, sonst wird da nie was draus.“
Er zieht hastig an seiner Zigarette, bevor er mir antwortet. „Sachma, lässte immer solche Dinger ab?“ Er kramt in seiner Bauarbeiterweste und zieht eine Kassette hervor. „Leg mal das hier ein.“
Ohne Zögern nehme ich die Kassette, die er mir nach vorne reicht und schiebe sie ins Kassetten-Laufwerk. Ich bin gespannt auf seinen Musikgeschmack. Vielleicht harte Gitarrenmusik?
Statt Heavy Metal dröhnt eine tiefe, markante, vom Leben gezeichnete Stimme aus den Lautsprecherboxen. Ich erkenne sie sofort. Johnny Cash.
Erleichtert ruckelt sich mein Fahrgast in eine entspanntere Sitzposition. Er sieht aus, als hätte er noch was zu sagen. Obwohl jetzt die Baustelle kommt, bleibt uns nicht viel Zeit. Am Ende der Straße wartet schon das Paracelsusbad.
„Nicht schlecht“, sage ich.
„Nicht schlecht? Du Grünschnabel! Der hier weiß, wovon er singt. Der hat die ganze Scheiße mitgemacht.“
Ich sehe im Rückspiegel, wie etwas in ihm mahlt, langsam und unbeweglich wie ein Mühlstein. Er zieht noch einmal an seiner Zigarette und fängt zu sprechen an.
„Ich war 23 Jahre mit ner Frau zusammen, 23 Jahre, verstehste, und es war immer die große Liebe. Für uns beide. Wir ham nen gemeinsamen Sohn, der is jetzt neunzehn. Und diese Frau, meine große Liebe, hat mich acht Jahre in den Knast gebracht und meine ganze Kohle eingesackt. Acht Jahre im Knast, kannste dir nicht vorstellen.“
Er macht eine Pause.
„Dabei hab ich nix anderes jemacht als die Regierung auch. Ich hab Waffen vertickt. Hab sie in Belgien einjekooft und hier für gutes Geld verscherbelt. Und sie hat mich verpfiffen. Ist als Kronzeugin aufgetreten und hat danach ne andere Identität angenommen.“
Noch eine Pause.
„Und dann, nach sechs Jahren hat se mich zum ersten Mal im Knast besucht, weil se keine Kohle mehr hatte, um den Strom zu bezahlen. Dabei hat sie erst noch mein geheimes Bankschließfach mit 350.000 ausgeräumt. Davon wollt ich mir später mal n Boot kaufen, in der türkischen Ägäis, das Leben genießen.“
Pause.
„Mit ihr zusammen.“
Kurze Pause.
„Sie hat ihr ganzes Leben lang zuhause rumgesessen und mein Geld ausgegeben. Soviel zum Thema Friede, Freude, Eierkuchen.“
Er legt noch eine lange Pause ein, während er aus der beinahe heruntergebrannten Zigarette das letzte heraussaugt.
„Liebe gibt’s nur im Märchen.“
Leidenschaftslos spuckt er mir die Brocken seines Lebens hin. Jeder einzelne klingt so, als hätte er acht Jahre lang drauf herumgekaut. Irgendwann ist keine Musik mehr drin.
„Und, was machste nu?“, frage ich schnell.
„Baugewerbe. Halblegal. Wäre ja blöd, wenn ich’s nicht noch mal probieren würde. Aber das Geld fließt nicht mehr so wie früher.“
Dann sind wir am Paracelsusbad. Er reicht drei Euro nach vorne, sagt „Ich wünsch Dir was“, und verlässt so schnell den Wagen, dass ich nicht dazu komme, ihm ein paar Abschiedsworte mit auf den Weg zu geben. Die Zigarettenkippe schnippt er mit den Fingern hoch durch die Luft.
Als ich wieder anfahre, singt Johnny Cash einen Song über die Liebe.
© Stefan Strehler, 2010, „Kurzstrecke über die Liebe“
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