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Die Nachbarin

Ich hing etwas in der Luft, als sie im Februar in die große Wohnung im dritten Stock einzog. Ihren Einzug habe ich nicht direkt miterlebt. Zum ersten Mal traf ich sie im Treppenhaus. Sie schaute mich mit großen Augen fragend an. Eine tiefe Traurigkeit lag in ihrem Blick, aber der Mund lächelte. Ich lächelte zurück und mir fiel meine eigene Traurigkeit wieder ein, die mich wie eine gute Freundin durch den Winter begleitet hatte. Ich konnte mich nicht erinnern wo sie herkam.

Seit 25 Monaten malochte ich für ein Sklavenarbeitsunternehmen, und das würde auch in den nächsten neun Monaten so bleiben. Ich half meistens in der Produktion, ab und zu bekam ich Fahrerjobs. Keine Arbeit gab es nie. Ich hatte vier Wochen Urlaub im Jahr und wenn mir ein Job allzusehr auf den Sack ging, dann sprach ich bei meiner Sklavenhalterin vor und sagte ihr, dass es Zeit für einen Wechsel wäre. Sie schätzte meine Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit und tat mir meist den Gefallen. Ich verdiente 12 Mark netto die Stunde, arbeitete fünf Tage die Woche, jeweils zehn Stunden, das machte 2400 Mark im Monat. Die Hälfte davon ging ans Finanzamt, 800 Mark für Miete und Telefon, blieben mir 100 Mark die Woche, die ich auf den Kopf hauen konnte. Auf Arbeits- oder Sozialamt hatte ich keine Lust. Das war nicht mein Stil, ich wollte unabhängig sein.

Abends saß ich in meiner Wohnung und versuchte, von der Zukunft zu träumen. Fernsehn war langweilig geworden, für Frauen und Alkohol hatte ich kein Geld. Einmal die Woche, meistens am Freitag, ging ich einen trinken. Das reichte auch. Am Wochenende spazierte ich bei schönem Wetter durch die Parks. Wenn es regnete blieb ich zu Hause. Ab und zu kam mein Sohn vorbei und kochte mir ein Essen. Er konnte gut kochen, das hatte ihm seine Mutter beigebracht.

Das zweite Mal traf ich sie an den Briefkästen. Gewohnheitsmäßig hatte ich reingeschaut, um die Werbung zu entfernen. Sie kam von oben, lächelte mich wieder an und schloß ihren auf. Es waren eine Menge Briefe darin. Ich staunte darüber und stand wohl etwas dämlich da. Sie sah zu mir herüber und fragte: „Na, auch Post bekommen?“ Ich war verlegen, brummte etwas und ging hinauf in meine Wohnung. Später ärgerte ich mich, dass ich sie einfach habe stehen lassen. Irgendwie mochte ich sie, obwohl ich sie gar nicht kannte. Sie schien noch sehr jung zu sein, ich kannte mich da nicht mehr richtig aus. Ich hatte keine Ahnung wie man mit jungen Frauen umgeht. Ich hatte zu dem Zeitpunkt andere Sorgen.

Ich zerbrach mir den Kopf darüber, was ich machen könnte, wenn die Schulden abbezahlt waren. Obwohl ich schon mal auf die Schnauze geflogen war, würde ich gern wieder etwas selbständiges machen. Das Angestelltendasein machte mich auf Dauer nicht zufrieden. Eine Weile ist es angenehm, sich um nichts kümmern zu müssen, aber dann macht es mich depressiv. Wenn ich so nachdachte, staunte ich manchmal, dass ich noch guter Dinge war. Ich sprach über meine Depression als hätte sie nichts mit mir zu tun. Mein Sohn sagte mal: „Papa, Du bist schon okay. Aber warum bist Du so leidenschaftslos geworden? Wenn Mama von früher erzählt, warst Du da nicht so.“

Sie erzählte also von früher. Das hätt ich ihr gar nicht zugetraut. Ich dachte selten an sie. Manchmal stellte ich sie mir nackt vor, erinnerte mich an ihre Brüste, die immer, auch nach dem Stillen, klein und fest waren. Diese Brüste fehlten mir, wenn ich ehrlich war. Das Ficken vermißte ich gar nicht. Seit ich keinen Sex mehr hatte, fühlte ich mich besser. Mein Sohn meinte, das wären die positiven Folgen der Sublimierung, ich solle was draus machen. Ich fragte ihn, was das ist, Sublimierung. „Na, was Du tust“, sagte er. „Beziehungsweise nicht tust. Keinen Sex haben. Das machen die Mönche, um in geistige Dimensionen vorzudringen.“ Aber mit Mönchsein hatte ich nichts am Hut. Obwohl ich zugeben musste, dass etwas dran war an der Sache. Etwas abgeschieden lebte ich schon.

Darum freute ich mich, als sie mich zum Tee einlud, als wir wieder einmal nebeneinander an den Briefkästen standen. Ich hab ihr wohl leid getan. Sie sagte: „Sie sind doch mein Nachbar. Kommen Sie mich doch mal besuchen. Ich mache einen Tee für uns.“ Das klang ganz natürlich aus ihrem Mund. Als wäre es das normalste von der Welt, dass man zu seinen Nachbarn zum Tee trinken geht. Ich brummte wieder nur, weil ich so überrascht war, brachte gerade noch ein „Ja, Danke“ heraus. Später freute ich mich dann richtig. Ich tanzte sogar ein bisschen durch die Wohnung. So ganz leicht. An diesem Abend, nach der Arbeit, dachte ich zum ersten Mal über sie nach und fragte mich, was sie wohl macht. So wie sie lebte, musste sie Studentin sein. Wenn wir uns an den Briefkästen trafen, kam sie immer von oben, als wäre sie noch gar nicht aus dem Haus gewesen. Einmal hatte ich sie im Park alleine spazieren gehen sehen.

Aber dann vergaß ich sie wieder. Ich überlegte, einen Imbißstand aufzumachen. Ich könnte meinen Sohn fragen, ob er kochen will. Nicht so einen öligen Kram, wie es überall gibt, sondern kleine, gesunde Gerichte, wie er sie manchmal zubereitete. Als ich ihm davon erzählte, sah er mich entgeistert an und erinnerte mich daran, dass er höheres im Sinn hatte. Er studierte Psychologie. Er sagte immer: „Weißt Du, Papa, die Leute brauchen immer mehr Therapien, weil sie mit dem modernen Leben nicht klar kommen und niemanden haben, mit dem sie ihre Sorgen besprechen können. Viele sind ja so allein wie Du. Und die brauchen Hilfe.“ Wahrscheinlich hatte er recht. Ich wäre nie zu einem Psychologen gegangen. Da hätte ich Angst, dass er mich verdreht. Außerdem kam ich ja gut klar. Das mit dem Imbiß war jedenfalls gestorben.

An einem Sonntag brauchte mein Sohn für einen Teig ein Ei und ich hatte keines da. Er fragte mich, zu welchem Nachbarn er gehen könne, um sich ein Ei zu borgen. Ich sagte erst, dass ich die Nachbarn nicht kenne, da fiel sie mir wieder ein. „Frag doch mal im dritten Stock bei dem Mädchen.“ Als er wiederkam, mit dem Ei, richtete er einen Gruß von ihr aus, sie würde immer noch einen Tee für uns kochen. Mein Sohn sagte nichts weiter. Ich spürte aber genau, wie er sich absichtlich zurückhielt. Ob sie das im Studium lernten? Nichts zu sagen, damit der andere von selber draufkommt? Ich war ja nicht blöd, ich hätte auch studieren können. Ich wollte nur nicht, weil mir der Weg damals zu weit war. Aber ich kapierte schon. Durch sein Schweigen gab er mir zu verstehen, dass ich doch mal hoch gehen könnte. Und es stimmte ja. Was hatte ich schon zu verlieren?

Als es am nächsten Wochenende regnete, ging ich nachmittags nach oben, und hatte Glück. Sie war da. Sie schaute mich aus ihren großen Augen an. Für einen Moment schien sie erstaunt, dass ich tatsächlich gekommen war. Als sie mich herein bat, fiel mir ein, dass ich etwas hätte mitbringen können. Blumen. Oder wenigstens das geborgte Ei. Aber sie schien sich auch so zu freuen. Ihre Wohnung war viel größer als meine. Sie führte mich ins erste Zimmer zu einem großen runden Tisch mit ein paar Stühlen drumherum, bat mich, Platz zu nehmen und sagte, ich müsse sie kurz entschuldigen. Sie ginge eben in die Küche, um Tee zu machen. Ob ich rauchen wollte. Ich verneinte. Dann saß ich da und sah mich um. Das Zimmer war fast leer. Ein paar große Kerzenständer standen in den Ecken, ein gemütlicher Sessel, ein Schallplattenspieler, ein paar Pflanzen, das war es. Eine Flügeltür zum nächsten Zimmer stand halb offen, so dass man etwas hineinsehen konnte. Ich sah ein riesiges Regal mit vielen Büchern. Als sie wiederkam, fragte ich sie, ob sie viel lesen würde.
Sie sagte: „Ja“. Sie fragte mich, ob ich auch viel lesen würde. Ich sagte: „Nein“.
„Gar nicht?“ fragte sie mich.
„Nein, nur die Schlagzeilen der Tageszeitungen an den Kiosken.“ Dann würde ich bestimmt viel fernsehen. Ich schüttelte den Kopf. Wie ich mich denn informieren würde. Ich guckte sie bestimmt wieder doof an. Worüber denn informieren? „Naja, was in der Welt so los ist.“ Jetzt lachte sie zum ersten Mal. „Ich lebe in meiner eigenen Welt“, sagte ich, „das reicht mir, da ist schon genug los.“ So waren wir einfach in ein Gespräch hineingerutscht. Sie fragte mich nach meiner Welt etwas genauer, schenkte mir Tee nach, lachte ab und zu und ich erzählte ihr von meiner Pleite in der EDV-Branche und was von den ganzen Werbeanzeigen zu halten sei, und dass ich einen Sohn hatte, aber das wußte sie ja schon und dass ich im Moment darüber nachdachte, was mir die Zukunft noch bringen könne. Sie fragte mich irgendwann, ob ich einen Führerschein habe. Ich sagte: „Ja.“ Und dann schlug sie mir vor, Taxifahrer zu werden. Da sei man auch als Angestellter ziemlich unabhängig.

Als ich wieder bei mir unten war, fiel mir auf, dass ich gar nichts von ihr erfahren hatte. Wir hatten nur über mich gesprochen. Ich wusste nur, dass sie viele Bücher liest. Und wie finanziert sie eigentlich die große Wohnung? Dann dachte ich über ihren Vorschlag nach, und er war gar nicht so übel. In der Woche darauf leistete ich mir ein Taxi, um von der Arbeit nach hause zu fahren. Dabei versuchte ich, den Fahrer auszufragen. Er jammerte unentwegt und als ich ihm erzählte, dass ich mir überlege, auch Taxifahrer zu werden, riet er mir dringend davon ab. Er malte das Geschäft in den düstersten Farben aus. Der Umsatz sei katastrophal mies seit die Mauer weg ist, weil die Leute kein Geld mehr haben, und die wenigen Fahrgäste sind entweder schlecht gelaunt oder hochnäsig und der Verkehr ist tagsüber die Hölle und nachts ist es viel zu gefährlich. Er kriegte sich gar nicht mehr ein. Er vergaß sogar, Geld von mir zu kassieren und im Wegfahren hörte ich ihn immer noch durchs offene Fenster schimpfen. Da war das mit dem Taxifahren auch gestorben.

Als mein Sohn mich bei meinem nächsten Besuch fragte, ob ich schon eine neue Idee hätte, erzählte ich erst gar nicht davon. Dann fragte er mich, ob ich mal bei ihr gewesen bin und machte dazu eine Handbewegung in Richtung Himmel, die mich sehr irritierte. Da fiel mir auf, dass ich nicht mal ihren Namen kannte. Ich sagte „Ja“.
„Und, wie wars?“ fragte er.
„Ganz schön eigentlich“, sagte ich, „obwohl ich so viel geredet habe und sie so wenig.“
„Dann frag sie doch einfach, was du wissen willst.“ Diesmal hielt er sich nicht zurück. Ich erinnerte mich an das Gefühl, an ihrem großen Tisch zu sitzen. Das war so, als hätte meine Traurigkeit da eine Heimat gefunden. Das fiel mir erst jetzt auf, und dann fiel mir noch auf, dass mir in letzter Zeit ganz schön viele Lichter aufgingen.

Das nächste Mal ging ich hoch, als es gerade dunkel wurde, weil ich sehen wollte, ob sie dann die Kerzen anmacht. Und es stimmte. Sie schien sich mehr zu freuen als beim ersten Mal und sagte, sie hätte gerade einen Tee gekocht, das wäre ja ein Zufall. Diesmal lag ein Buch auf dem Tisch. Ich warf einen Blick darauf. Virgina Woolf – Orlando. Hatte ich noch nie von gehört. Ich fing gleich mit fragen an.
„Was machen Sie eigentlich den ganzen Tag?“
„Ich lese und denke nach.“
„Und sonst nichts?“ Sie zögerte kurz und schüttelte dann den Kopf.
„Und wie bezahlen Sie die Wohnung?“
„Als meine Eltern starben, habe ich etwas Geld geerbt.“ Es war nicht so hell im Zimmer, weil nur ein paar Kerzen brannten und ich konnte ihre Augen nicht genau erkennen, aber ich hatte das Gefühl, als sei sie in diesem Moment noch trauriger geworden und mir fiel nichts mehr ein, was ich fragen konnte. Nach einer Pause fragte sie mich, was aus der Taxifahreridee geworden ist. Ich erzählte ihr davon. Sie meinte, ich hätte vielleicht eine unglückliche Auswahl getroffen. Dann fragte sie mich nach meiner Arbeit, und als ich nicht viel davon erzählen wollte, fragte sie mich, ob ich keine Freunde habe. Und als ich „Nein“ sagte, fragte ich sie, ob sie keine Freunde hat. Und sie sagte „Doch, ein paar“, aber die würden in einer anderen Stadt leben und ihre besten Freunde seien die Bücher. Ich fragte sie, ob das Buch gut sei, das auf dem Tisch lag. Und sie sagte „Ja“, sie hätte es gerade ausgelesen, ob ich es ausleihen will. Ich sagte „Nein“. Da fragte sie mich, ob ich in meinem Leben überhaupt schon mal ein Buch gelesen habe. Aber ich wollte auf keine ihrer Fragen mehr antworten und sagte, ich müsse jetzt gehen.

Als ich später über ihre Frage nachdachte, fiel mir ein, dass ich als Junge viele Bücher gelesen habe. So viele Bücher, dass mir mein Vater eines Tages verbot, Bücher zu lesen, weil er sagte, das würde mir schaden und ich würde nur vor mich hinträumen und nichts von der Welt mitbekommen. Er nahm mir damals alle Bücher weg und achtete darauf, dass ich auch heimlich keine Bücher mehr las. Mir fielen zwei Bücher ein, die mich damals besonders begeistert hatten. Der Graf von Monte Christo, das habe ich bestimmt dreimal gelesen, und ein Buch über die Jugend von Friedrich Engels, den Partner von Marx. Das hatte mich ziemlich beeindruckt, weil er so ein reicher Schnösel gewesen ist und trotzdem für die Arbeiter kämpfte. Dann fiel mir auf einmal ein, dass ich ja Schriftsteller werden könnte. Da war man auch sein eigener Chef. Mir kam es so vor, als sei das eine gute Idee, so dass ich es meinem Sohn erzählte, als er mich das nächste Mal besuchte. Er schaute noch entgeisterter als damals, als ich ihm die Sache mit der Imbißbude erzählt habe. Dabei hatte es diesmal gar nichts mit ihm zu tun. Als er das merkte, entschuldigte er sich erst und sagte dann: „Papa, Du als Schriftsteller! Das kann ich mir einfach nicht vorstellen.“ Das ärgerte mich. Nur weil er studierte, brauchte er nicht zu glauben, dass alle Nichtstudierten nichts zu sagen hätten. Aber als er mich fragte: „Worüber willst Du denn schreiben?“ fiel mir keine Antwort ein.

Ich ging noch zweimal zu der Nachbarin nach oben. Sie war sehr freundlich zu mir, aber weil sie mir immer so viele Fragen stellte, besuchte ich sie dann nicht mehr. Der Sommer kam. Ich lief viel durch die Parks und mir ging nur eine einzige Frage im Kopf herum: Worüber könnte ich schreiben? Ich ging mein bisheriges Leben durch, und als ich es näher betrachtete, kam es mir gewöhnlich und langweilig vor im Vergleich zu dem Leben von Monte Christo oder Friedrich Engels, und ich dachte mir, dass ich etwas erfinden müsse. Ich dachte mir alle möglichen Abenteuer aus, mit gerechten Helden und bösen Menschen, wie ich sie aus meinen Büchern von früher in Erinnerung hatte. Als ich meinem Sohn davon erzählte, sagte er: „Aber Papa, das gibts doch alles schon. Die Leute schreiben heute über andere Sachen.“
„Worüber denn?“ fragte ich ihn.
„Na, geh doch mal in einen Buchladen und schaus dir an“, schlug er mir vor. Das war eine gute Idee. Gleich am nächsten Wochenende ging ich einen großen Buchladen. Als ich herein kam, sah ich als erstes meine Nachbarin. Sie schaute mich direkt an mit ihren traurigen Augen. Nicht in echt, sondern von einem Poster. Vor dem Poster lagen Bücher, da stand ihr Name drauf. Ich schlug ein Buch auf, die erste Seite, und fing zu lesen an: Zum ersten Mal traf ich ihn im Treppenhaus.

© Stefan Strehler, 2000, “Die Nachbarin”

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