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Die Magie von Westberlin

Eine Taxistory

An einem der ersten richtigen Frühlingstage habe ich mich in eine ruhige Seitenstraße des Kudamms verkrochen. Vor mir nur zwei Taxen, aber wenig Laufkundschaft, da die meisten Touristen und Taxikunden die Halteplätze am Kranzler und in der Fasanenstraße ansteuern. Ein perfekter Platz, um wirklich abzuschalten. Ich brauche dringend eine schöpferische Pause. Das Herumsitzen und Warten in der angespannten Hoffnung, dass die nächste Tour den elenden Tag noch herumreißt, das ewige halb konzentrierte Zeitunglesen, während nebenher das Funkgerät quäkt, die immer endloser sich dehnenden Pausen zwischen den Fahrgästen – der Stillstand zermürbt mich.
Mein Chef Rainer setzte mir vor ein paar Tagen die Pistole auf die Brust. „Du musst dich entscheiden, Tag- oder Nachtschicht!“ Grund dafür waren meine lausigen Umsätze.
„Das geht nicht, Rainer. Das ist nicht mein Rhythmus – entweder, oder. Ich brauche mal so, mal so.“
„Wenn du mit deinem Rhythmus keinen Umsatz bringst, muss ich einen zweiten Fahrer auf dem Wagen einsetzen. Sonst rechnet sich das Ganze nicht.“
„Aber es liegt doch nicht an mir.“ Ich rang um Argumente. „Seitdem die Neunziger vorbei sind, geht es ständig bergab. Immer mehr Taxen, immer mehr Verkehr, immer weniger Umsatz. Ein richtiger Tiefpunkt war der 11. September 2001. Als wäre Berlin New York. Keiner traute sich mehr auf die Straße. Und 2002, als der Euro kam, war das grausamste Jahr, seit die Droschke erfunden wurde. In der Nacht zum 1. Januar tauschten die Restaurants auf ihren Speisekarten die D-Mark mit den Euro-Symbolen aus und wochenlang blieben alle aus Angst zuhause, über den Tisch gezogen zu werden. Seitdem schrumpft das Geschäft. Und nur von den Anzugträgern kannste auch nicht leben.“ Es ist eine öde Litanei, die meinem Mund entweicht, ohne echte Empörung. Dafür habe ich sie schon zu oft mit Kollegen durchgekaut.
Rainer sah mich mit den Augen eines Seehundes an. „Du musst dir halt was einfallen lassen, Taxifahrer. Das goldene Zeitalter von Westberlin ist vorüber. Du könntest dich öfter mal in Tegel anstellen, anstatt immer nur an der Eberswalder Straße herumzulungern, um dort den Studentinnen auf den Po zu gucken. Du musst mit dem Strom schwimmen, Junge, die Tage der Individualisten sind gezählt. Und die Leute, die dein Taxi fahren wollen, stehen Schlange. Es gibt ’ne Menge Jobs in dieser Stadt, die sehr viel schlechter bezahlt sind. Vor allem für unsere Freunde aus dem Morgenland.“
Mein Chef, ein kluger Berliner Proletarier, hatte früh erkannt, dass Taxifahren vor allem für fleißige Muslime interessant ist. Sie sind bescheiden, unermüdlich, zuverlässig. Rainer beklagt sich zwar, dass sich sein Wedding in Klein-Istanbul verwandelt hat, aber als kluger Geschäftsmann baut er genau darauf. In seinem kleinen Büro in der Buttmannstraße steht neben dem Abrechnungstisch eine große Wasserpfeife. Ich bin nur noch einer von zweien seiner etwa zwanzig Angestellten, die deutsche Wurzeln haben.
„Gib mir noch etwas Zeit, Rainer, um meinen Umsatz zu steigern. Ich werde mein Bestes geben.“
Rainer sah mich lange sorgenvoll an. Ich wusste, dass er mich mochte. „Okay, einen Monat“, sagte er schließlich. Bevor ich ging, nahm er von dem Häuflein Bargeld, das ich eben bei ihm abgerechnet hatte, einen Fünf-Euro-Schein und steckte ihn mir in die Hemdtasche. Wie ein Vater seinem Sohn. „Probier’s mal mit ’nem Lächeln. Und davon hol dir ’ne Brause.“

Ich holte mir keine Brause, sondern legte noch etwas drauf und kaufte mir stattdessen ein Buch des aktuellen Nobelpreisträgers Imre Kertész. Sein ausgezeichnetes Werk, der autobiografische Roman eines Schicksalslosen, spielt im KZ, in das der Schriftsteller als 15-Jähriger verschleppt worden war; das war mir zu hart. Aber sein Galeeren-Tagebuch sprach mich an. Im moralischen Sinn ist es möglich, ja sogar nötig, im Paradox zu leben, stand auf der Rückseite des Taschenbuchs. Ich war zwar kein Galeerensklave, aber ich fühlte mich zu Einsamkeit und sinnloser Schufterei verurteilt. Das Paradox interessierte mich: Wie kann ich mich in einem widersprüchlichen Lebenskonzept einrichten? Wie Rainer, der mit der Sehnsucht nach dem proletarisch-deutschen Wedding seiner Kindheit lebte und sich zugleich mit kaufmännischem Realitätssinn um die muslimischen Angestellten kümmerte, die sein Kindheitsidyll aus Brause und Hertha BSC in ein anatolisches Riesendorf verwandelt hatten.
Und wie konnte ich damit klarkommen, dass ich einerseits davon träumte, dass endlich jemand in meinen Wagen steigt und den magischen Satz von sich gibt; eine hübsche Türkin mit Wickelrock, Kopftuch und rot geschminkten Lippen. Der magische Satz lautet: „Folgen Sie dem schwarzen BMW da vorne.“ Und flüsternd fügt sie zu: „Sie sind ab sofort Teil einer geheimen Operation. Ich brauche Ihre Hilfe.“
Und andererseits steigt bei mir nur noch selten jemand ein. Und niemand sagt einen magischen Satz. Manchmal glaube ich, die Fahrgäste ahnen, dass ich insgeheim in Ruhe gelassen werden will.
Mein Paradox: Ich sehne mich nach erfüllenden Abenteuern, Magie und starker Handlung – und stattdessen warte ich darauf, dass jemand einsteigt, der weiß, wo es langgeht.
Magie kommt wenn, dann nur als Beschwörungsformel der Vergangenheit vor. Wie bei der in die Jahre gekommenen Achtundsechzigerin mit den großen Ohrringen, die ich vorhin vom Zoo in die Pariser Straße kutschiert habe. Sie muss gespürt haben, dass ich nach einer Stunde Wartezeit nicht begeistert war von einer Tour, die mir unterm Strich gerade mal vier Euro einbrachte.
„Wissen Sie, früher in Westberlin musste man sich nicht schämen, wenn man am Zoo ’ne Taxe nahm – egal wie weit man fuhr.“ Sie erzählte das ungefragt und blickte dabei aus dem Seitenfenster. Statt eine Antwort zu geben („Früher legten die Taxen am Zoo auch im Fünf-Minuten-Takt ab“), suchte ich ihren Blick im Rückspiegel, aber sie starrte stur aus dem Fenster. Sie musste mal sehr hübsch gewesen sein, und sie war immer noch attraktiv. Ihr dunkles Haar war an den Rändern angegraut, von den Augen liefen feine Fältchen übers Gesicht, ihre Haut glänzte dunkel, wahrscheinlich von echter griechischer Sonne während eines Inselaufenthaltes gebräunt, aber um den schmalen Mund spielte ein bitterer Zug.
„Darf man hier rauchen? Ach nee, das ist ja auch überall verboten.“ Tatsächlich hatte ich Nichtraucher-Schilder an den Fensterscheiben hängen, aber ich nahm es nicht so genau damit.
„Wenn Sie die Fenster öffnen, dürfen Sie.“
„Oh, wie reizend, junger Mann.“ Sie steckte sich zügig und routiniert eine Zigarette an und blies viel Rauch aus dem Fenster. Dann schwieg sie eine Weile und schien sich von den vorbeiziehenden Häuserfassaden der Joachimsthaler Straße Inspiration zu holen, denn plötzlich setzte sie zu einer theatralischen Rede an; dabei flüsterte, raunte und schrie sie fast, wie Patti Smith in manchen ihrer besten Songs. „Westberlin, das war der Sozialismus, von dem wir alle immer geträumt haben. Gemütlich, überschaubar, ein paar Entbehrungen durch die Mauer außenrum, aber mit Charme. Und niemand hatte Not. Die Menschen lebten und feierten vor sich hin. Der Staat kümmerte sich um die Alten, Kranken und Behinderten. Niemand arbeitete für Geld, sondern alle behielten ihre Würde. Und das Beste war: Man konnte jederzeit abhauen. Aber keiner tat es.“ Sie gackerte etwas irre. Sie hielt mich offensichtlich für einen Zugezogenen. Beim Aussteigen sagte sie weder „Danke“, noch erwiderte sie meinen Gruß zum Abschied.

Im Taxi riecht es immer noch nach ihrer Zigarette. Obwohl ich mich für einen Antinostalgiker halte, gefiel mir ihre Darbietung. Westberlin, das war schon was.
Ich schaue mich um. Es ist etwa halb drei, ein paar Geschäftsleute eilen über den Kudamm. Früher war hier mehr los. Eine türkische Agentin ist nicht in Sicht. So nehme ich das Buch des Nobelpreisträgers in die Hand und blättere darin, um mehr über das Paradox zu erfahren.
Nur der hält aus, in dem genug Hass und Verachtung brennt, der sich sozusagen aus Rache am Leben hält und das Versprechen seiner Begabung einlöst,
schreibt Kertész. Ein starker Satz, der vielleicht im Ungarn der sechziger Jahre richtig war. Aber heute?
Ich spüre weder Hass noch Verachtung in mir. Vielleicht ist es ja kein Wunder, dass es mir so schwer fällt auszuhalten. Ich überlege. Ich könnte Rainer hassen, meinen Chef, weil er mir das Taxi wegnehmen will. Oder die Leute, die hier entspannt herumspazieren, anstatt bei mir einzusteigen. Aber beides gelingt mir nicht. Ich spüre nur eine kraftlose Zustimmung. Einfacher wäre es, mich selbst zu verachten, weil ich auf uninspirierte Weise meine Lebenszeit vertrödele und alle Versprechen breche, die ich mir jemals gegeben habe. All die Hoffnungen, die andere in mich gesetzt haben. All die nicht zu Ende gebrachten Vorhaben. Keine Werke, keine Familie, kein Erfolg, nicht einmal Hass.
Irgendwann einmal wollte ich die Hoffnung bekämpfen; inzwischen ist sie auch von selbst vergangen
, notiert Kertész ein paar Zeilen weiter.
Mann, der hat es wirklich drauf, depressive Gedanken zu denken. Eine große traurige Seele. Ich lege das schwer gewordene Buch beiseite und gleite in einen traumlosen Schlaf …

Als ich wieder erwache, sind die beiden Taxen vor mir verschwunden. Hinter mir steht ein Kollege auf der Hupe. Schnell ziehe ich den Wagen vor. Ich fühle mich überraschend frisch. Ich nehme mir vor, bei meinen Fahrgästen eine neue Strategie auszuprobieren. Ich will etwas Abscheu entwickeln, einen glimmenden Zorn kultivieren, um ein inneres Gegengewicht zur Gleichgültigkeit zu schaffen, mit der ich sonst die Welt wahrnehme. Ich richte mich auf.
Wieso versuche ich, so verflucht freundlich zu meinen Fahrgästen zu sein? War es in Westberlin nicht üblich, jedem, der irgendeine Dienstleistung in Anspruch nehmen wollte, mit grimmiger Herablassung zu begegnen?
Ich blicke mich nach vermeintlichen Opfern um, und sofort fällt mir eine groß gewachsene, vollschlanke ältere Dame in einem quietschend gut gelaunten Blümchenkleid auf, die direkt auf mich zusteuert. Ihre Frisur sieht aus wie eine Tsunamiwelle kurz bevor sie auf den Strand kracht, und mittendrin im Frisurensturm sitzt eine Sonnenbrille mit den Ausmaßen einer Ananas. Eine Operettendiva. Sie lacht gerade laut ihrem Begleiter zu, einem im Gegensatz zu ihr schlicht im hellen Anzug gekleideten älteren Herrn, als der ihr die hintere Tür meines Taxis aufhält. Mit überraschender Grazie lässt sie sich auf dem Rücksitz nieder. Auf einmal blitzt und glimmert es in meinem Taxi in allen Farben. „Hello“, sagt sie in osteuropäisch klingendem Englisch.
Der Mann will sich zu mir nach vorne setzen. Schnell verstaue ich das Galeeren-Tagebuch und meine Trinkflasche. Er verbreitet eine ganz andere Atmosphäre als seine schrille Begleiterin: ruhig und würdevoll, mit einer Ausstrahlung, als habe er schon etwas erlebt. Er wirft mir einen freundlichen Blick zu, bevor er sich anschnallt. Seine in bestem Deutsch formulierte Begrüßung erwidere ich mit einem knurrigen: „Wohin soll’s gehen?“ Schon mit meinem Tonfall versuche ich klar zu machen, dass eine Tour, die nur wenige Kilometer weit führt, nicht akzeptabel ist und ich mich in diesem Fall gezwungen sähe, einen touristischen Umweg über die Siegessäule zu machen.
„Nach Westend“, sagt der Mann, unbeeindruckt von meinem Mienenspiel.
Das lasse ich durchgehen. Ich biege links in den Kudamm ein und beschließe, bis zum Rathenauplatz durchzufahren und nicht schon am Adenauerplatz abzubiegen. Damit würde ich in jeder Taxiprüfung durchfallen, aber wen kümmert das? Bestimmt nicht diese reichen Russen, die sich ausschließlich dafür interessieren, wie sie ihr ergaunertes Geld ausgeben können. Ich spreche kein Russisch, aber die Sprache, in der sich die beiden unterhalten, passt zu meiner Vermutung. Er sagt etwas mit einer angenehm weichen Stimme, daraufhin strömt ein Schwall pulsierender Worte aus ihr heraus, und beide lachen laut und fröhlich. Sie haben verdammt gute Laune.
„Was für ein wundervoller Frühlingstag“, sagt der Mann neben mir auf einmal in akzentfreiem Deutsch.
„Ach, die Sonne täuscht nur über die wahren Zustände hinweg“, antworte ich schnell und versuche dabei, sehr düster zu wirken.
Der Mann wendet sich mir aufmerksam zu. „Ach ja, von welchen Zuständen sprechen Sie?“
Ich überlege, wie ich meinen Hass am besten entfachen kann. Ich hole erst mal tief Luft. „Na, die ganze sogenannte Wiedervereinigung“, platzt es aus mir heraus. „Und die sogenannte Freiheit, die damit einhergehen soll. Schauen Sie sich um: Überall Graffiti und Müll auf den Straßen. Sie sollten mal sehen, wie das hier nach ’ner Love Parade aussieht. Zustände wie in einem brasilianischen Slum. Und da, die zerstörten Bushäuschen: Sieht so eine Stadt aus, deren Bürger zufrieden sind?“ Ich bin überrascht, wie gut ich in Fahrt komme. „Und sehen Sie den ordentlich gekleideten Mann da mit der fahrbaren Einkaufstasche und dem großen Rucksack? Der sammelt leere Flaschen aus den öffentlichen Mülleimern, um vom Pfandgeld seine Miete zu bezahlen. Und dem geht’s noch gut, die U-Bahnen sind voll mit Obdachlosen.“
„Oh, das meinen Sie“, antwortet der Mann gelassen und äußerst freundlich. „Wissen Sie, verglichen mit anderen europäischen Hauptstädten ist Berlin sehr sauber, und es gibt wenig echte Armut hier. Es ist eine entspannte, inspirierende Stadt.“
„Aber die Menschen hier sind unglücklich, seit die Mauer weg ist. Sie wissen mit ihrer Freiheit nichts anzufangen. Im Osten jammern sie, wenn die Mieten steigen und die alten Bekanntschaften auseinanderbrechen. Sie wünschen sich einen Kapitalismus ohne Konkurrenz. Und im Westen hätten sie am liebsten die Mauer zurück.“
„Im Westen?“, fragt mein Fahrgast erstaunt. Noch bevor ich antworten kann, schiebt er schnell ein paar Sätze an die Frau auf dem Rücksitz dazwischen. Ich sehe sie im Rückspiegel schmunzeln.
„Ja, im Westen! Der Sozialismus, den sich alle immer gewünscht haben, den gab es nur in Westberlin, und jetzt ist er für immer dahin.“
„Ich dachte, Westberlin war ein Teil der kapitalistischen Bundesrepublik?“
„Auf dem Papier. Aber in Wirklichkeit war es was ganz Eigenes. Eine Insel. Ein Idyll. Ein historisches Exotikum. In keiner westlichen Großstadt war die Motorisierung pro Einwohner so niedrig wie in Westberlin. Was wollten sie auch mit ’nem Wagen? Und die jungen Männer mussten keinen Wehrdienst machen. Westberlin war eine pazifistische Zone. Alle Angestellten bekamen acht Prozent Extralohn vom Staat! Einfach so. Es gab günstige, große Wohnungen, in allen Stadtlagen. Es wurde gearbeitet, aber mit Maß und Ruhe. Und selbst die paar überverhältnismäßig Reichen, die es in der Stadt gab, solidarisierten sich. Man gehörte zusammen, man teilte ein gemeinsames Schicksal. Es gab Nischen, die waren so verträumt und utopisch und friedlich, da hätten sich alle neuen Werthers der DDR die Finger nach geleckt. Und ab und zu schauten David Bowie oder Iggy Pop vorbei und nahmen ein neues Album auf. Es war beschaulich. Nicht wie heute, wo große Teile der Stadt eine Art Abenteuerspielplatz für die Jugend der Welt sind und sich niemand mehr um das Morgen kümmert. Schon gar nicht der Party-Bürgermeister.“ Ich mache eine Pause. Meine Argumente haben sich erschöpft. Mein Fahrgast schickt schnell ein paar übersetzende Sätze nach hinten. Da fällt mir noch was ein.
„Westberlin hatte eine eigene Zeitrechnung, und das Beste war: Alle fuhren Taxi! Tag und Nacht fuhren sie kreuz und quer durch die Stadt, zur Arbeit, zum Einkaufen, in die Kneipe und nach Hause. Die meisten hatten ja kein Auto. Selbst die Sozialhilfeempfänger stolperten direkt vom Sozialamt zum Kiosk, wo sie sich ’nen Sechserpack Bier holten, und damit ab in die nächste Taxe, durch die halbe Stadt zu irgendeinem Kumpel, um die monatliche Solidaritätszahlung gebührend zu begrüßen.“ Ich halte inne. Mein ungerichteter, lascher Hass hat sich in Begeisterung verwandelt. „Das war Westberlin!“, sage ich mit leichtem Triumph.
Die Dame hinter mir kichert und gluckst. Sie ruft laut etwas aus, das ich nicht verstehe. Dann lacht auch er frei heraus.
Offensichtlich bin ich dabei, mich lächerlich zu machen.
Da zeigt der Mann neben mir erklärend nach draußen auf die Fahrspur rechts von uns. Dort fährt ein offenes Mercedes-Cabriolet, am Steuer eine junge Frau, und auf dem Rücksitz sitzt aufrecht ein großer weißer Pudel, dessen Ohren im Wind schlackern. Er sieht aus wie ein Kind, das gerade eine Riesenportion exzellente Eiskrem verspeist. „Sie mögen es so, wenn der Wind bläst“, sagt mein Nachbar, immer noch lächelnd zu mir. Seine Gesichtszüge glätten sich.
Mit leisem Ernst fährt er fort: „Was Sie eben erzählten, ist sehr interessant. Westberlin war zweifellos eine gemütliche Stadt.“ Er macht eine Pause und überlegt. „Aber wieso sollte es besser sein, in einem halben Gefängnis zu leben als in der ganzen Freiheit? Niemand hat gesagt, dass es einfach wäre, in Freiheit zu leben. Die Frage ist für mich, ob den Menschen nach all der Zwangsgemütlichkeit auf der einen Seite und der Diktatur auf der anderen Seite noch Kraft und Mut genug geblieben sind, die Freiheit wirklich anzunehmen?“ Während er seine Worte mit Bedacht wählt und sie so langsam ausspricht, dass sich mir ihr Sinn auf eine tiefe Weise enthüllt, schmilzt das letzte bisschen Verachtung, das ich ihm entgegenbringen könnte, restlos dahin.
Die Freiheit wirklich annehmen. Ja, das wäre was. Auf einmal spüre ich eine große Kraft von den einfachen Worten des Mannes ausgehen.
Die ganze Freiheit. Mit Haut und Haar.
Ich spüre, wie sich das Dach meines Taxis aufrollt und die Frühlingssonne direkt in mein Herz scheint. Dieser bescheidene Mann neben mir, der mit der eigenartig schrillen Dame ein ungewöhnliches Gespann bildet, weiß, wovon er spricht.
Mittlerweile sind wir kurz vor dem Ziel. Ich sammle etwas Mut und unterbreche den fröhlichen Plausch, den er mit der Dame auf dem Rücksitz wieder aufgenommen hat. „Entschuldigen Sie meine Neugier, aber aus welchem Land stammen Sie?“
„Ungarn“, antwortet er leise lächelnd.
„Und was führt Sie nach Berlin?“
„Die Stadt gefällt uns. Ich bin Schriftsteller. Ich arbeite hier gerne. Hier ist es. Danke“, sagt er. Wir sind in der Westendallee angekommen. Ich bringe den Wagen vor einem frisch sanierten, stattlichen Gründerzeithaus zum Stehen. Während er nach dem passenden Geldbetrag sucht, schaue ich ihn mir zum ersten Mal genauer an. Ein feiner, sanfter, kluger und heiterer Mann mit hellwachen Augen. Es gibt so wenige von dieser Art.
„Darf ich eine letzte Frage stellen?“, fasse ich mir ein Herz, um meine Neugier zu stillen.
„Aber gewiss. Ich unterhalte mich gerne mit Ihnen.“
„Wie heißen Sie?“
„Kertész. Imre Kertész.“
Ich bin kurz verwirrt, blicke erst ihn wild an und dann um mich, ob ich vielleicht immer noch am Kudamm stehe und träume. Ist das möglich? Aber ja, das hier ist die Westendallee. Die Dame steht schon auf dem Bürgersteig und wartet. Neben mir sitzt Imre Kertész, der Nobelpreisträger, der Mann, der das KZ überlebt hat, der Mann, der weiß, wie es ist, im Paradox zu leben. Schnell springe ich aus dem Wagen, laufe zur anderen Seite und öffne ihm die Türe, damit er aussteigen kann. „Es ist mir eine Ehre“, sage ich. „Ich bin überrascht, dass Sie so …“ Ich suche nach den richtigen Worten. „… heiter sind.“
„Ja“, sagt er, nachdem er ausgestiegen ist und sich mit einer höflichen Handbewegung bei mir bedankt hat. „Ich weiß, meine Bücher sind traurig. Aber ich bin ein fröhlicher Mensch.“ Er geht lächelnd zu der wartenden Dame und grüßt mich ein letztes Mal. „Alles Gute für Sie!“
Ich schaue den beiden hinterher, bis sie im Haus verschwunden sind. Zögernd setze ich mich in mein Taxi, das mir jetzt leer und eng vorkommt. Ich öffne alle Fenster und schaue noch einmal zu dem Hauseingang.
Das hier ist größer als Westberlin.

© Stefan Strehler, 2015, „Die Magie von Westberlin“

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