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Komm, Vogel, flieg

Als ich Gustav zum ersten Mal sah, stand er rauchend vor seinem Gartentor und winkte zu mir herüber. Ich konnte nicht zurückwinken, denn ich hatte die Hände voller Tüten mit zerrissenem Klebeband. Ich stopfte erst die Tüten in die Mülltonne und trat dann auf den morastigen Feldweg, der unsere Grundstücke mit der Dorfstraße und dem Rest der Welt verband.
„Tach, Nachbar“, grinste er mich an. Ich wusste, das ist Gustav. Unser Vermieter hatte ihn erwähnt. Ich hätte mich längst bei ihm vorstellen können. Er schnipste die Zigarette zur Seite und wischte ungelenk die Hand an seiner Hose ab, bevor er sie mir reichte.
„Müssen entschuldigen, ich hab gearbeitet.“ Eine Wolke aus Schmutz und Staub hüllte ihn ein. Er sah aus wie ein Maulwurf, der sein Tunnelsystem versehentlich in einem Kohleschacht angelegt hat.
„Früher hab ich Motoren zusammengebaut. Heute nehm’ ich sie auseinander“, erzählte er mir ungefragt. Ich lächelte ihn auffordernd an. Aber er winkte ab.
„Och, viel Arbeit für ein paar Pfund Kupfer. Aber immerhin bringts Geld für die kleine Rente.“ Er hielt mir eine Zigarettenschachtel hin. Ablehnend schüttelte ich den Kopf. Er klopfte sich umständlich eine aus dem Päckchen. Noch bevor er die Zigarette im Mund hatte, sagte ich schnell: „Ja, dann. Ich muss wieder ins Haus. Weiter Kisten auspacken.“ Bevor ich mich umdrehte, fügte ich hinzu: „Auf gute Nachbarschaft!“

Bald erfuhren wir, was es heißt, dass der Nachbar Motoren auseinander nimmt. Ein metallisches Klopfen zerhackte die Stille unserer sommerlichen Idylle. Ein monotones Kling-Klang setzte oft schon um acht Uhr morgens ein und hörte erst kurz vor Sonnenuntergang wieder auf. Dazwischen lagen längere Pausen. Er arbeitete gemächlich, aber stetig, unermüdlich wie ein Specht. Weit unangenehmer als das Klopfen, das mir bald zum vertrauten Geräusch wurde, waren die schweren, übel riechenden Schwaden, die der Westwind an manchen Tagen zu uns herüber trieb. Sie wurden von einem bösen, rätselhaften Fauchen begleitet.
Da Gustavs Arbeitsplatz durch eine Mauer vor unserem Einblick geschützt war, wusste ich lange Zeit nicht, was Gustav für ein Geschäft betrieb. Erst als der Gestank an einem brütenden, windlosen Augusttag völlig unerträglich wurde, legte ich etwas widerwillig mein Buch zur Seite und rollte mich aus dem Schatten, um Gustav in der Mittagshitze einen Besuch abzustatten. Eine Klingel gab es nicht. Ich betrat sein Grundstück durch das halb offen stehende Gartentor und tastete mich vorsichtig die Kiesauffahrt entlang, die mit Kippen, Kabelresten und kleinen Metallteilen übersät war.
Hinter einem Mauervorsprung entdeckte ich ihn schwitzend, auf einem Hocker sitzend. Ein Kleidungsstück, das einmal ein Hemd gewesen sein mochte, hing in Schlieren von seinen massiven Schultern herab. Mit der rechten Hand umklammerte er einen klobigen Bunsenbrenner. Mit dem fackelte er einen Strauch aus dicken Kabeln ab, welchen er mit der linken Hand festhielt. Er bemerkte mich nicht sofort. So hatte ich Zeit, meinen Blick in Ruhe über den halb schattigen Platz zwischen Haus und Garage streifen zu lassen. Schrottteile türmten sich da, schwer begreifbare stählerne Gehäuse, daneben die zugehörigen Innereien, Gekabel, Gerümpel, auch verquollene Möbel lagerten in einer Ecke. Als Gustav mich bemerkte, stellte er den Brenner ab und schob sich eine große Plastikbrille in die Stirn. Hinter seinen halb herunter hängenden Augenlidern schnappte etwas Jungenhaftes hervor. Er war überrascht und erfreut, mich zu sehen. Unter seinem Hocker fingerte er nach einer Bierflasche.
„Ooch’n Schluck, Nachbar? Es gibt noch mehr Kühles in der Garage.“ Mit der Hand machte ich eine abwehrende Bewegung und zeigte stattdessen auf die qualmenden Kabelreste. Mir fiel auf, dass ich Gustavs Familiennamen nicht kannte. „Das Zeug da stinkt entsetzlich.“
Er blickte auf das angekokelte Bündel in seiner Hand, als versuche er zu begreifen, wie es dorthin gekommen war. Einige frei gelegte Drähte schimmerten in der Sonne.
„Ist die beste Methode, um das Kupfer raus zu holen.“
Wir starrten nun beide auf das Bündel. Mir war leicht schwindlig von der stinkenden Hitze und von meiner Anspannung. Ich hätte mich am liebsten auf einen der verquollenen Sessel gesetzt. Stattdessen sagte ich: „Es riecht wie eine verdammt giftige Methode.“
Gustav nahm einen Schluck von seinem Bier, bevor er antwortete.
„Ach was, Nachbar. Is’ völlig harmlos. Das hat seit Jahren keinem wehgetan.“
Ich wollte möglichst schnell wieder nach drüben, in meinen Garten, in den Schatten, zu meinem Buch und meinen beruhigenden Gedanken. Ich konzentrierte mich, um dem nächsten Satz einen scharfen Ton zu unterlegen. „Mir wäre es lieber, wenn das aufhört.“ Meinen Blick ließ ich von dem immer noch qualmenden Kabelbündel zu seinen Augen hoch schnellen. Dann drehte ich mich grußlos um und ließ Gustav alleine. Als ich mich wieder auf meiner Decke ausstreckte, war ich zufrieden, wenngleich ich mir wenig Hoffnung auf Veränderung machte.

Gustav stellte seine Taktik um. Er zündete seinen Brenner nur noch, wenn er sicher sein konnte, dass wir nicht zu Hause waren. Wir rochen das verbrannte Plastik nach unserer Rückkehr in den Zimmern, falls wir die Fenster offen gelassen hatten.
Ich war mir unsicher, was als Nächstes zu tun war. Gustav hatte das Recht des Alters und der Gewohnheit auf seiner Seite. Wir, die Zugezogenen, wollten uns mit dem giftigen Gemisch in der Luft nicht einfach abfinden. Ich sprach mit unserem Vermieter über das Problem, erkundigte mich beim Gesundheits- und beim Umweltamt, beratschlagte mit Freunden und Abende lang mit meiner Frau. Nach zähen Erörterungen fühlte ich mich endlich entschlossen und gewappnet, Gustav ein Ultimatum zu stellen. Sobald ich ihn das nächste Mal ertappen würde, wollte ich ihm eine Anzeige beim Umweltamt ankündigen.
Gustav ließ es nicht so weit kommen. Als hätte er meine Gedanken gespürt, beendete er sein schlitzohriges Manöver und schlug einen neuen Weg ein. Ein Umzugswagen fuhr vor. Eine Frau zog ein. Das Hämmern klang aus. Der stinkende Drachen hatte seinen letzten, fauchenden Atemzug getan. Einige Tage später sah ich, wie Gustav mit seinem Hänger einige Fuhren Schrott wegbrachte.
Die Frau blieb ein Phantom. Manchmal sah ich sie frühmorgens, wenn ich die Zeitung aus dem Briefkasten holte, zusammen mit Gustav ins Auto steigen, wohl um in die Stadt zu fahren. Beim Gehen zog sie schwerfällig ein Bein nach. Ihre Kleidung wirkte verwahrlost, ihr Gesicht schien selbst aus der Ferne missraten und abstoßend. Sie strahlte dieselbe Nachlässigkeit sich selbst gegenüber aus, die auch Gustav auszeichnete. Die meiste Zeit hielt sie sich im Haus auf und war nur ab und zu als Schatten wahrzunehmen, der ums Haus schlich.

Mein Verhältnis zu Gustav blieb distanziert. Wenn wir uns erblickten, winkten wir über den Zaun hinweg. Er stand oft, wie an jenem ersten Tag, auf dem Weg vor seinem Gartentor und rauchte. Ich spürte, dass er sich wünschte, dass ich mich zu ihm geselle. Aber ich tat so, als sei ich an seiner Existenz unbeteiligt und konzentrierte mich auf Beschäftigungen in dem Teil unseres Gartens, der von der Grenze zu Gustav am weitesten entfernt war.
Einmal entdeckte ich ihn auf einem meiner Streifzüge durch den umliegenden Wald. Etwas abseits vom Weg saß er auf einem großen Stein und rauchte. Er schien auf etwas zu lauschen. Er wirkte ruhig und gesammelt, wie ein Mann, der weiß, dass ein Mädchen aus seiner Jugend nicht mehr wiederkehrt.

Eines Tages im Herbst winkte er anders als sonst zu mir herüber. Ich stieg gerade aus dem Auto, als er laut „Hey, Nachbar“ rief. Ich reagierte nicht sofort, er wiederholte seinen Anruf. Etwas unwillig näherte ich mich dem Zaun.
„Nachbar, komm, rüber. Ich muss dir was zeigen.“ Mir gefiel seine Art nicht, aber ich folgte ihm und wechselte auf seine Seite. War es mein schlechtes Gewissen oder einfach meine Neugier? Ich war dankbar für eine Abwechslung. Der Sommer war vorüber und ich fürchtete mich vor der Eintönigkeit des bevorstehenden Winters. Ich war gespannt, was Gustav mir zeigen wollte.
Er führte mich über die Auffahrt zu seinem nun aufgeräumten Schrottplatz. Dahinter öffnete er langsam das Tor einer Garage.
„Schau mal da hinein“, wies er mich an. Ich starrte ins Halbdunkel und versuchte etwas zu erkennen. Auf dem Boden lag ein totes hundähnliches Tier mit einem buschigen Schwanz.
„Was ist das?“ fragte ich Gustav. Er seufzte. „Sieht aus wie ein Fuchs. Hat sich hier sein letztes Plätzchen gesucht. Dachte erst, er schläft. Aber er ist tot.“ Er tippte mit seinem rechten Stiefel leicht gegen den Kopf des reglosen Tieres. „Jetzt muss ich ihn irgendwie wegschaffen.“ Er schloss das Garagentor wieder zu und schaute mich an. „Ist dir mal aufgefallen, Nachbar, dass auf deinem Dachboden ein Marder lebt?“
„Ich dachte immer, es sind Mäuse.“
„Wenn du willst, dann könn’ wir den Marder im Winter, wenn Schnee liegt, beobachten. Da sehen wir, wo er ein- und aussteigt. Ich schieß auf ihn, dann biste ihn los.“ Wir gingen langsam die Auffahrt entlang, zurück zum Grundstückstor. „Komm Nachbar, heute trinken wir einen. Man find nich alle Tage einen toten Fuchs in seiner Garage. Ich erzähl’ dir, wie ich mal ein Wildschwein geschossen hab, das in deinem Garten herumschnüffelte. Das war vielleicht ein Riesenschwein.“ Als er das sagte, spürte ich zu meiner Überraschung, dass es schön wäre, mit ihm ein Bier zu trinken. Aber ich wollte nicht vorschnell kapitulieren. „Ich denke über die Sache mit dem Marder nach“, sagte ich und ließ ihn stehen.
Von diesem Tag an winkte er mich öfter zu sich, um mir etwas mitzuteilen. Meist trat ich jetzt auf ein paar Worte zu ihm. Oft sprach er über Tiere. Über die Eichhörnchen, die in der großen Eiche gegenüber seiner Einfahrt lebten. Ihnen sah er beim Spielen zu, wenn er rauchend auf dem Weg stand. Über einen Fuchs, der in einem Bau unweit unserer Häuser lebte, über den schwarzen Kater, der wild durch unsere Gärten streunte. Einmal sagte er: „Nachbar, du lässt dein Licht nachts brennen. Das ist nicht gut für die Stromrechnung.“ Und ein anderes Mal, mit dem Finger auf sein eigenes Haus zeigend: „Das ist eine ganz arme Frau. Die hat ein schweres Leben gehabt.“

Als es kälter wurde und spürbar auf den Winter zuging, erinnerte er mich an den Marder. Ich hatte mich an unsere kleinen Plaudereien gewöhnt. „Ja, warum nicht“, sagte ich zu ihm. Sein immer noch verschmiertes Gesicht hellte sich auf. „Nächste Woche muss ich ins Krankenhaus, Nierenuntersuchung. Wenn ich zurück bin, fällt der erste Schnee, wenn wir Glück haben. Dann könn’ wir die Spur aufnehmen.“ Mir gefiel die Aussicht auf ein kleines Jagdabenteuer im Garten.
Ich dachte mir nichts dabei, als er mich zwei Tage später schon wieder zu sich heranwinkte. Erst als ich näher kam, sah ich, dass er einen Vogel beschützend in der Hand hielt. Seine grobe, schmutzige Faust hielt ihn in der hohlen Hand umschlossen. Für einen Augenblick war ich von der Zartheit überwältigt, mit der Gustav den hilflosen Vogel trug. „Hat sich wohl den Flügel gebrochen“, sagte er leise zu mir. Ich nickte stumm. Ich war überrascht, wie ähnlich Gustav, den ich anfangs für einen Maulwurf hielt, dem Vogel sah. Er wirkte ernst, zerbrechlich und alterslos. Ich hatte mir nie Gedanken darüber gemacht, wie alt Gustav war. Er konnte sechzig sein oder achtundsiebzig, ich wusste es nicht. Gustav setzte den Vogel vorsichtig auf dem Vogelhäuschen ab, das in seinem Vorgarten stand. „Komm, Vogel, flieg“, sagte er dabei, und versuchte ein Grinsen, das ihm nicht gelang.

In der Woche vor Weihnachten klingelte es am frühen Morgen an unserer Tür. Noch im Pyjama und in Erwartung eines Weihnachtspäckchens, öffnete ich. Die Frau aus Gustavs Haus stand vor mir. Zum ersten Mal sah ich sie aus der Nähe und musste mich angesichts ihres zerklüfteten, zahnlosen Gesichts zusammenreißen. Sie trug Hauspantoffeln wie ich und hielt sich im scharfen Dezemberwind an einem Stock fest. Ihr Blick ging zur Seite, als sie zu mir sprach.
„Letzte Nacht ist Herr Walter gestorben.“ Als sie das sagte, schluchzte sie auf. Ich brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass Herr Walter Gustav war und dass Gustav tot war.
„Die Nieren warn in Ordnung und nachts war er plötzlich tot. Wer weiß was sie mit ihm gemacht haben.“ Genaueres wusste sie nicht. Ich forderte sie auf, herein zu kommen, aber sie wehrte energisch ab. „So schnell ging das.“ Sie kaute und spuckte, während sie sprach. „Das hat er nicht verdient gehabt, dass es so schnell geht.“ Ich ließ sie reden und während ich ihr zuhörte, dachte ich an Gustavs Pläne, den Marder zu erwischen, und daran, dass wir nie ein Bier miteinander getrunken hatten. Als die Frau sich verabschiedete, bot ich ihr an sie zu begleiten. Aber sie drehte sich wortlos um und ließ mich stehen.
Ich sah ihr hinterher, wie sie mit wackeligem Gang unser Grundstück verließ, ein paar Schritte über die unasphaltierte Dorfstraße eierte und Gustavs Auffahrt betrat. Es schien mir unbegreiflich, dass Gustav nie wieder rauchend vor seinem Tor stehen würde. Auf einmal stieg eine unerklärliche Wut in mir auf und ich empfand es als schweren Verrat, dass Gustav so plötzlich verschwunden war. Ich verfolgte den schweren Gang der Frau, und als sie aus meinem Blick verschwand, schien die Atmosphäre an unserem Ende der Dorfstraße farbloser also sonst zu sein. Ich verstand nicht, wieso mir der Tod von Gustav so nahe ging. Ich starrte vor mich hin und fühlte mich schrecklich.

Gestern war der erste richtige Frühlingstag. Die Sonne schien warm, die Grasspitzen färbten sich grün und die Vögel sangen lauthals ihr Lied. Tagsüber schrieb ich auf, was ich mit Gustav erlebt hatte und abends trank ich im Garten, etwa dort, wo wir uns öfter unterhalten hatten, ein Bier mit ihm übern Gartenzaun. Seitdem vor acht Wochen die Frau ausgezogen war, lag Gustavs Haus verlassen da. Als ich die Flasche ausgetrunken hatte, kletterte ich übern Zaun und holte das Vogelhäuschen herüber. Ich bin mir sicher, niemand vermisst es, wenn eines Tages neue Nachbarn kommen. Ich trug es hinters Haus und stellte es so auf, dass ich durchs Fenster meines Arbeitszimmers darauf blicken kann. Obwohl der Frühling begonnen hat, legte ich ein paar Körner aus. Hier sitz ich und wenn mir nichts mehr einfällt, beobachte ich die Vögel beim Picken, solange, bis das nächste Wort kommt. Wenn es dämmert, lege ich den Stift zur Seite und lausche. Manchmal höre ich dann die trappelnden Schritte des Marders, der unbehelligt auf unserem Dachboden lebt.

© Stefan Strehler, 2010, „Komm, Vogel, flieg“

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