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Die Fremde

Als ich von einer Reise nach Köln zurückkehrte, war meine Frau verschwunden.
Das Taxi setzte mich vor unserem Grundstück ab, ich freute mich, wieder daheim zu sein, und betrat das Haus, das wie gewohnt offenstand. Der Flur empfing mich beinahe wie immer, nur eine leichte Unordnung fiel mir auf. Am Haken hing ein Mantel, den ich nicht kannte, aus samtig grün glitzerndem Stoff. Ich betrat das Wohnzimmer und lauschte in eine Stille, die mir überraschend fremd vorkam.
„Sabrina, bist du da?“
Ich hörte ein Rascheln vom Sofa her, etwas Weiches fiel zu Boden.
„Hallo.“ Die Stimme klang süß, aber es war nicht die Stimme meiner Frau Sabrina. Stattdessen räkelte sich auf dem Sofa eine fremde, dunkelhaarige Frau, halb sitzend, halb liegend, eine auffällige Frau mit einladend leuchtenden Augen und einem wunderschönen Hals, der über ihrem freien Brustansatz glänzte.
„Hallo“, sagte ich, „kennen wir uns?“
Sie lächelte mich an, ihr weiches Gesicht öffnete sich, und sie betrachtete mich neugierig.
„Wissen Sie, wo meine Frau ist?“
Sie hob ihre rechte Schulter, dabei verrutschte ihr Oberteil und legte die andere Schulter frei.
„Sind Sie eine Freundin von Sabrina?“
Jetzt schaute sie mich etwas traurig an, und ich hatte das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben. Ich stand in meinem dunklen Anzug in meinem Wohnzimmer, jedenfalls hielt ich es für mein Wohnzimmer, es standen immerhin dieselben Möbel darin wie in dem Wohnzimmer, das ich vor fünf Tagen verlassen hatte, und mir gegenüber saß eine fremde Frau, die auf meine Fragen nur mit rätselhaften Gesten antwortete.
„Ist Sabrina etwas zugestoßen?“
Die Dunkelhaarige stand auf und ging langsam auf mich zu. Jetzt sah ich ihre volle Schönheit, ihren sinnlich geschwungenen Mund, die lässige Art, wie sie sich bewegte. Sie streifte an mir vorüber und berührte kurz meinen Arm. Ich drehte mich um, um sie nicht aus den Augen zu verlieren, und betrachtete sie von hinten. Ihren Rücken, ihren Po, ihre Beine.
„Mach dir keine Sorgen“, sagte sie, nun in der Küche angekommen, und drehte sich wieder zu mir um, „sie kommt bald wieder. Sie hat mich gebeten, für dich zu sorgen. Was immer du dir wünschst.“
O Gott, dachte ich, ich wünsche meine Frau hierher. Ich hatte mich auf sie gefreut, ich wollte ihre Stimme hören, ich wollte mit ihr schlafen. Ich mochte unsere Begegnungen im Bett, wenn ich von einer Reise zurückkehrte. Sie waren der Grund dafür, weshalb ich wegfuhr.
Die Fremde fing in der Küche zu klappern an, als sei sie hier zu Hause. Was meinte sie mit „Was immer du dir wünschst“?
Ich beschloss, duschen zu gehen, um Zeit für mich zu haben, um nachzudenken.

Im Badezimmer war mir alles vertraut. Mein Rasierwasser stand am gewohnten Platz, genauso wie das Naturparfum, das ich Sabrina zum Geburtstag geschenkt hatte. Auch ihre Zahnbürste stand im Becher. Sie schien also nicht verreist zu sein.
Während ich duschte, versuchte ich meine Gedanken zu ordnen. Wollte Sabrina mich auf die Probe stellen, indem sie mir eine Gespielin ins Haus schickte? Handelte es sich um eine Art Treuetest? War sie sich vielleicht meiner Liebe nicht mehr sicher? Oder war dies eines ihrer überraschenden Geschenke? Ich erinnerte mich, wie ich ihr erzählt hatte, dass ich nach sieben Jahren Ehe manchmal Lust hatte, eine andere Frau zu berühren. Ich erinnerte mich an den Abend, wie sie nach drei Gläsern Rotwein überraschend bereitwillig und lustvoll meiner harmlosen Phantasie gelauscht hatte. Sie wollte wissen, wo und wie ich die fremde Frau berühren wollte, und forderte mich auf, mir alles genau auszumalen. Ich fühlte mich beschämt von ihrer Offenheit und murmelte etwas von den Brüsten und vom Bauch und von … und hielt schließlich inne, weil ich spürte, wie sehr mich die Vorstellung erregte. Ich küsste sie, und wir schliefen auf dem Sofa miteinander, was wir lange nicht getan hatten.
Die Erinnerung und das gleichmäßige Prasseln der warmen Dusche lösten meine Anspannung, und ein wohliges Kribbeln breitete sich in meinem ganzen Körper aus. Je länger ich darüber nachdachte, umso deutlicher wurde mir, dass es sich nicht um einen Treuetest, sondern um ein frivoles Angebot handelte.

Als ich im Bademantel in die Küche zurückkehrte, dampften zwei Schalen Milchkaffee auf dem Tisch. Die dunkelhaarige Frau sah mich ruhig und erwartungsvoll an.
„Was würde Sabrina sagen, wenn sie uns hier sitzen sehen könnte?“
Sie lächelte.
„Hat sie dich beauftragt, mich zu verführen?“
„Willst du denn, dass ich dich verführe?“
„Ob ich …? Also, wir wohnen hier zusammen – normalerweise. Wir sind verheiratet. Wir sind uns bislang immer treu gewesen. Jedenfalls glaube ich das. Das geht nicht einfach so, und wenn … dann ginge das überhaupt nur, wenn ich weiß, dass sie … zustimmt.“
Die Dunkelhaarige öffnete und schloss ihre Lippen, ich sah, wie sich die Äderchen auf ihren Wangen mit Blut füllten. „Du willst also.“
„Nein, aber nein, das … so nicht. Ich will einfach wissen, wie du hierherkommst und wo sie ist und …“
„Mach dir nicht so viele Gedanken“, sagte sie süß und bestimmt. „Es ist nichts Schlimmes dabei, eine Frau zu berühren, wenn sie damit einverstanden ist. Gott wünscht sich, dass das geschieht.“
Sofort als sie es sagte, wusste ich, dass Gott recht hatte.
Wenn ich ehrlich war, war mir die Dunkelhaarige gar nicht so fremd. Ich kannte sie tatsächlich schon sehr lange. Ich hatte sie öfter vor mir gesehen, die verführerische, dunkelhaarige Frau, die am Rand des Abgrunds auf mich wartet, ich träumte von ihr, wenn ich alleine in meinem Bett lag. Und jetzt war sie so nahe wie noch nie. Sie war wirklich hier. Ich konnte sie einfach nehmen.
Alles, was ich mir wünschte.
Ein letzter Gedanke beunruhigte mich. Wieso hatte Sabrina mir dieses Geschenk nicht persönlich übergeben?
„Sabrina geht es gut“, sagte die Dunkelhaarige, als könnte sie meine Gedanken lesen, und stand auf. Sie strich wieder an mir vorüber, ich roch ihr Haar, ihren weichen Bauch, ihre Blume. Sie verschwand in unserem Schlafzimmer.

Als ich sie auf unserem Ehebett sitzen sah, fühlte es sich an, als würde der Boden unter mir wanken. Sie schien ganz ruhig, schaute mich einfach an, ihre Beine streckten sich mir entgegen, die nackten Füße, ihre Zehennägel leuchteten rot. Ihre Augen erinnerten mich an Sabrinas Augen, groß und dunkel, wenn sie mich manchmal morgens nach dem Aufwachen anschaute, als sei sie verwundert, neben wem sie aufwachte. Ich folgte ihrem Blick und sah an mir herunter, an meinem halb geöffneten Bademantel, auf meine Füße. Ich traute mich kaum, den Kopf zu heben und sie wieder anzusehen, so stark war das Gefühl, etwas Verbotenes zu betrachten. Hier in diesem Raum, die fremde Frau auf unserem Ehebett, bereit für mich, und ich kurz davor, meinen Mantel abzustreifen.
Auf einmal wusste ich genau, was zu tun war. Es stieg von unten durch meinen ganzen Körper auf, heftig und durchdringend.
Ich ging nahe an das vertraute Bett heran, an unser Bett. Die Fremde wartete, still, glühend.
„Verbind mir die Augen“, sagte ich und war überrascht, wie klar ich war. „Ich will dich nicht sehen.“
Sie tat, was ich ihr sagte. Ich spürte zum ersten Mal ihre feinen Finger an meinem Kopf. Als sie fertig war, sagte ich: „Jetzt zieh dich aus.“
Ich hörte, wie sie sich entkleidete, wie sie aus dem Gewand der Fremden schlüpfte und zu einer nackten Frau wurde, zu einer unter Millionen von Frauen.
Ich streifte meinen Mantel ab und stieg auf das Bett. Ich ertastete ihre Füße und hielt sie lange fest, dann streichelte ich mich langsam aufwärts, über die festen Waden, die Knie, die weichen Oberschenkel, ihre Mulde streifend, den Bauch liebkosend, die Vorhöfe der Brüste, ich zitterte, als ich ihre Hügel umkreiste, zuerst sanft und dann mit immer festeren Bewegungen, bis auf den Gipfel, wo mich eine feste Blütenspitze empfing, ein köstliches Etwas, direkt mit dem Zentrum ihrer Lust verbunden.
Ich hörte ihr Seufzen, ich hörte ihr Öffnen. Ich suchte ihre Lippen, die sich weit und weich wie zwei Pforten zu einem Ozean anfühlten. Sie beherbergten eine Seeschlange, die sich aus ihrem Mund heraus um meine Zunge wand und nicht mehr losließ. Ich lauschte der Lust, während wir uns küssten, und ich hörte die Töne des Ozeans in allen Farben klingen. Als ich in sie eindrang, war ich längst selbst der Ozean geworden, ohne Anfang und Ende, alle Wasser umfassend, bis in alle Zellen, bis ins Äußerste der Haarspitzen von Lust geflutet, bis ins Innerste der Herzkammern. Ich schwappte über und über und so lange, bis ich mein Bewusstsein verlor.

Als ich erwachte, spürte ich als Erstes die Augenbinde. Neben mir hörte ich ihren sanften, ruhigen Atem. Ich drehte mich zu ihr und tastete nach ihrem Bauch, der noch feucht war, nach den Brüsten, die sich nun weicher anfühlten. Langsam fuhr meine Hand nach oben, über ihr Gesicht, durch das Haar. Alles war mir vertraut.
Ich streifte die Binde ab und traute mich, sie anzusehen.
Sie lächelte.
Sabrina lächelte mich froh an. „Das war sehr schön, mein Lieber.“

© Stefan Strehler, 2012, „Die Fremde“

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